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Panorama Missbrauch in Kita

"Da hinten tun sich Kinder ganz doll weh"

Verdacht sexueller Übergriffe unter Kindern in Kita Verdacht sexueller Übergriffe unter Kindern in Kita
Die Mainzer Kindertagesstätte Maria Königin hat nach einem massiven Missbrauchsvorfall geschlossen. Fast alle der 55 Kleinkinder sollen bedroht, geschlagen und sexuell missbraucht ...worden sein – von anderen Kindern
Quelle: dpa
Skandal in einer Mainzer Kita: Kinder wurden gezwungen, in die Puppenecke zu pinkeln. Sie wurden gedemütigt, geschlagen und sexuell missbraucht – von anderen Kindern. Wie konnte es soweit kommen?

Die Mainzer Kindertagesstätte Maria Königin gibt ein trostloses, ja fast unheimliches Bild ab an diesem Tag kurz nach dem Paukenschlag. Hinter den zartgelben Vorhängen regt sich nichts, weit und breit ist kein Kind zu sehen. Und doch stehen und liegen vor dem Eingang wild durcheinander niedliche Dreiräder, rote Tretautos und kleine Schubkarren, mit denen die Kleinen bis vor Kurzem über den Hof gekurvt sein oder „Gärtner“ gespielt haben müssen.

Es sieht aus, als seien die Spielgeräte nur mal eben für eine kurze Trinkpause abgestellt worden – und dann urplötzlich alle Kinder aus unerklärlichem Grund wie vom Erdboden verschwunden. So ähnlich war es eigentlich auch: Die Kita wurde von der katholischen Kirche als ihrem Träger Knall auf Fall dichtgemacht, weil dort schier Unglaubliches aufgedeckt wurde.

Mit „erstaunlicher Fantasie“, sagt der Mainzer Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann, hätten Kinder andere Kinder gequält
Mit „erstaunlicher Fantasie“, sagt der Mainzer Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann, hätten Kinder andere Kinder gequält
Quelle: dpa

Fast alle der 55 betreuten Kinder sollen monatelang mehrfach täglich massiv bedroht, erpresst, bestohlen und sexuell missbraucht worden sein – mit teilweise ausdrücklich sadistischer Note, wie ein Psychologe sagt. Die Kirche selbst spricht von „Perversitäten sexueller Gewalt“. Und zwar nicht begangen von einem Erzieher oder fremden Erwachsenen – sondern von anderen Kindern. Von Knirpsen im Alter zwischen drei und sechs Jahren.

Der Fall ist in seiner Dimension ziemlich einzigartig, sollte die ermittelnde Staatsanwaltschaft die Vorwürfe erhärten. Viele der gequälten Kinder sollen traumatisiert sein, manche wurden wohl auch verletzt. Eltern, Behörden wie das Landesjugendamt und das Bistum sind entsetzt, auch Karl Kardinal Lehmann sei „tief bestürzt“, heißt es bei der katholischen Kirche, die nicht nur die in einem funktionellen Neubau untergebrachte Kita bis September komplett dichtgemacht hat, sondern auch alle Erzieher feuerte.

Sechs Frauen, darunter die Leiterin, und ein Erzieher sind betroffen, sie haben sich noch nicht geäußert. Aber glaubt man dem Mainzer Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann, haben sie auch keine große Betroffenheit gezeigt. Es habe weder eine Erklärung gegeben, wie es dazu kommen konnte, noch eine Entschuldigung.

Gezwungen, in die Puppenecke zu pinkeln

Zumindest scheint aber außer Frage zu stehen, dass die Erzieher nicht involviert waren in die Handlungen. Die wütenden Eltern halten ihnen aber vor, Signale und Warnungen monatelang übersehen und regelrecht abgeblockt zu haben. Ob das stimmt, ermittelt nun die vom Bistum alarmierte Staatsanwaltschaft. Der Anfangsverdacht „gegen unbekannt“ lautet Staatsanwalt Gerd Deutschle zufolge auf unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Körperverletzung sowie vernachlässigte Fürsorge- und Erziehungspflicht.

Noch stehen die Aufklärer am Anfang, und die Frage, um wie viele gewalttätige Kinder es sich gehandelt hatte, ist offen. Die Einschätzungen schwanken zwischen drei und 15. Aber vieles deutet nach Psychiater Michael Huss von der Mainzer Uniklinik darauf hin, dass es anfangs eine kleine Gruppe von drei bis fünf Quälenden gab.

Dieses Verhalten ist nicht normal. Auch wenn ich meine Berufsjahre Revue passieren lasse, fällt das eindeutig aus dem Rahmen.
Michael Huss, Kinder- und Jugendpsychiater

Der Hessische Rundfunk berichtet nach Gesprächen mit Eltern, die Hauptantreiber sollen zunächst drei Jungs im Alter von sechs Jahren gewesen sein. Dann haben aber wohl mehrere Mädchen oder Jungen die Fronten gewechselt, waren also zunächst Opfer, wurden dann aber auch zu handelnden „Tätern“. Wobei in diesem Alter streng genommen noch gar nicht von einer „Tat“ die Rede sein kann, weil die Kinder noch nicht straffähig sind. Fachleute sprechen daher meist von „übergriffigen“ Kindern. Doch dieser Begriff erscheint angesichts der Vorkommnisse recht harmlos.

Das machte den entsetzten Eltern ein Brief klar, in dem das Bistum schließlich kein Blatt mehr vor den Mund nahm, was das Geschehene anging. Demnach wurden Kinder von anderen gezwungen, auf den Teppich oder in die Puppenecke zu pinkeln.

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Vieles spielte sich wohl auf der Toilette ab, weshalb eine Mutter, die ihren Namen nicht nennen wollte, erst jetzt versteht, warum sich ihre Tochter seit Monaten zu Hause davor fürchtete, aufs WC zu gehen. Die Kinder mussten sich ausziehen, ihre Geschlechtsteile herzeigen, und wer sich weigerte, bekam unter Umständen Schläge. Einmal soll ein Kind gar mit einem Loch im Kopf im Krankenhaus gelandet sein.

„Erstaunliche Fantasie“

Dann mussten sie sich umdrehen und den anderen ihren Po hinstrecken, woraufhin diese sich mit Gegenständen am Anus zu schaffen machten. Mit „erstaunlicher Fantasie“ seien auch Gegenstände eingeführt worden, so Prälat Giebelmann. Mehrere Jungs wurden laut dem Elternbrief sogar mit einer erschreckenden Routine zwei Mal am Tag gezwungen, die Vorhaut am Penis zurückzuziehen, und dann schlug ihnen ein anderes Kind drauf.

Die Gespräche mit den Kindern will die Kirche Fachleuten von der Universitätsklinik Mainz überlassen. Michael Huss, der die Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie leitet, mahnt aber auch hier Geduld an. Viele der Kinder hätten das Ausmaß des Geschehenen noch gar nicht erfasst. Hier müsse behutsam vorgegangen werden.

Wenn Du dein Spielzeug nicht mitbringst, machen wir Dich tot
Übergriffige Kinder zu ihren Spielkameraden

Auch er kann das Ausmaß der Vorfälle kaum fassen. Das gehe weit über das hinaus, was man unter Doktorspielen kenne. „Dieses Verhalten ist nicht normal. Auch wenn ich meine Berufsjahre Revue passieren lasse, fällt das eindeutig aus dem Rahmen.“ Möglicherweise habe auch pornografisches Material eine Rolle gespielt. Es sei schwer vorstellbar, dass sich Kinder so etwas einfach selbst ausdenken. Womöglich habe aber auch das eine oder andere Kind selbst Missbrauch erlebt und in die Gruppe hineingetragen.

Eine Mutter führte im Gespräch mit dem Bistum an, sie habe sogar einmal ein Attest in die Kita gebracht, in dem ein Arzt eine seltsame Verletzung ihres Sohnes an den Geschlechtsteilen diagnostiziert hatte. Sie habe wissen wollen, was geschehen war, sei aber abgewiesen worden. „Die Erzieher sagen, sie hätten die Hinweise der Eltern falsch verstanden“, sagte Prälat Giebelmann in einem Pressegespräch kopfschüttelnd. „Aber angesichts dieser Vorwürfe muss man sich schon fragen, wieso man da etwas falsch verstanden haben kann.“

Der Präsident des aufsichtführenden Landesjugendamts, Werner Keggenhoff, kritisierte die lange Weigerung des Teams, sich professionelle Hilfe zu holen. Der Vorfall sei sehr gravierend. „Vorwürfe wie diese habe ich seit Jahren nicht gehört.“

Einige Eltern wussten womöglich Bescheid

Unter anderem gab es auch Drohungen, die den verängstigten Kleinkindern schlaflose Nächte bereitet haben müssen. „Wenn du dein Spielzeug nicht mitbringst, machen wir dich tot“, mit solchen Drohungen hätten die übergriffigen Kinder Beute bei den anderen zu machen versucht. Und so flog wohl auch die Sache auf. Eine alarmierte Mutter schrieb endlich einen Brief direkt an die Pfarrei, nicht an die Einrichtung selbst. So kam der Stein ins Rollen.

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Doch sehr spät. Angeblich haben Eltern dreier Kinder schon im Dezember auf mögliche sexuelle Übergriffe hingewiesen. Und ein Vater war im Gespräch mit dem SWR besonders empört, weil ihm sein Sohn berichtete, er habe die Erzieherinnen ausdrücklich informiert: „Da hinten sind Kinder, die sich ganz doll wehtun.“ Aber es sei nichts passiert. Dass seinem Sohn in der Not nicht geholfen wurde, mache ihn sehr wütend, sagte der Vater.

Mehr als verärgert sind die Eltern aber auch aus anderen Gründen: Von der sofortigen Schließung der Kita erfuhren sie am 2. Juni abends um 22 Uhr, aber dann dauerte es noch einige Tage, bis sie per Brief über die Gründe informiert wurden. Auch mit den Ersatzstellen für ihre Kleinen läuft es wohl nicht so reibungslos wie erhofft.

Alle Mitarbeiter der Mainzer Kita wurden gefeuert. Die betroffenen Eltern wollen ihre Kinder auf keinen Fall dorthin zurückschicken
Alle Mitarbeiter der Mainzer Kita wurden gefeuert. Die betroffenen Eltern wollen ihre Kinder auf keinen Fall dorthin zurückschicken
Quelle: dpa

Und vor allem richtet sich die Wut auch gegen andere Eltern, die womöglich Bescheid wussten. Denn mehrere Eltern hätten ihre Kinder wegen solcher Vorfälle still und heimlich abgemeldet, statt das Gespräch mit anderen zu suchen. Die Wut richtet sich zudem gegen die Kirche, die erst die Staatsanwaltschaft eingeschaltet habe, als die „Allgemeine Zeitung“ aus Mainz über den Skandal berichtete.

Womöglich war das Team überfordert. Die Leiterin soll oft krank gewesen sein und sich nicht hinreichend gekümmert haben um die Kita, berichtet der SWR. Die Zahl der Betreuer sei zu gering gewesen, außerdem habe es in den letzten Jahren eine ungewöhnlich hohe Fluktuation gegeben. Dem Träger hätte das bereits eine Warnung sein sollen, dass hier etwas im Argen liegt. Doch das Bistum, das sich künftig stärker in die Personalauswahl einmischen will, wenn der Kindergarten im September mit neuer Truppe wieder öffnet, erfuhr nichts.

Die Beschwerden blieben alle innerhalb der Kita hängen. „Das war ein geschlossenes System“, so Prälat Giebelmann: „Wie es geschehen kann, dass ein Gesamtgeist einer Einrichtung so umkippt und so im Grunde genommen verroht, weiß ich auch nicht.“ Es habe ein „Kartell des Schweigens“ gegeben.

Kinder missbrauchen wie Erwachsene

Nach Einschätzung von Fachleuten werden immer mehr Fälle bekannt, in denen sich strafunmündige Kinder sexuell an Gleichaltrigen vergangen haben. Das kann aber auch einfach daran liegen, dass die Gesellschaft sensibler geworden ist und stärker hinschaut. Wissenschaftler der Uni Duisburg-Essen haben sich vor einigen Jahren intensiv mit bekannt gewordenen Fällen beschäftigt. Allerdings waren hier die übergriffigen Kinder schon zwischen acht und 14 Jahre alt. Aber womöglich lassen sich die Erkenntnisse zumindest im Ansatz übertragen. Denn die auffälligen Kinder waren ja möglicherweise schon gewalttätig gegen Gleichaltrige und Jüngere, als sie selbst kaum in der Schule waren.

Vor allem die Jungen waren oft auch in anderer Hinsicht auffällig, sie klauten, legten Feuer, waren übermäßig rotzig oder widerspenstig. Dazu gesellte sich oft eine depressiv-ängstliche Natur, verbunden mit sozialen Problemen. Oft hatten sie in der eigenen Familie körperliche, psychische oder auch sexuelle Gewalterfahrungen erlebt. Etwa die Hälfte der sexuell übergriffigen Jungen hatte der Duisburger Studie zufolge selbst sexuelle Missbrauchserfahrungen erleiden müssen.

Kinder belästigen oder missbrauchen andere offenbar auf ganz ähnliche Weise wie Erwachsene. Als eine der häufigsten Verhaltensweisen fanden die Wissenschaftler, dass sie andere Kinder an den Genitalien anfassen. Drei Viertel der untersuchten Jungen penetrierten ihre Opfer entweder oral, vaginal oder anal. Rund 15 Prozent der untersuchten Vorfälle ereigneten sich in Gruppen, ähnlich viele waren gewalttätig. In der Mehrheit versuchten Kinder, sich ihr Gegenüber durch Geschenke, Überreden oder Drohungen untertan zu machen.

Allerdings sei nicht jede Verletzung der Intimsphäre sexuell motiviert, so die Duisburger Wissenschaftler. Oft wolle das Kind Macht spüren und andere erniedrigen, weil es kein anderes Ventil für seine negativen Stimmungen habe. Trauer, Angst oder Wut würden durch sexuelles Verhalten weggeschoben.

Ob in der Kita Maria Königin tatsächlich der Neuanfang gelingt, ist allerdings ungewiss. Zumindest die bisher dort betreuten Kinder werden wohl nicht mehr zurückkehren. Niemals werde man die Kinder zurück in diese Kita bringen, davon habe auch der behandelnde Psychologe dringend abgeraten, sagte ein Elternpaar. Lieber würden sie weniger arbeiten.

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